Literarisches Übersetzen – Potentiale für die Kulturelle Bildung
Literarisches Übersetzen – Potentiale für die Kulturelle Bildung
Foto: Esther Christina Hansen
Literarisches Übersetzen – Potentiale für die Kulturelle Bildung

Literarisches Übersetzen – Potentiale für die Kulturelle Bildung

Ein Essay von Juliane Schallau

 

In einem Interview mit dem Online-Magazin Words Without Borders beschrieb die US-amerikanische Übersetzerin Susan Bernofsky das literarische Übersetzen einmal als „the slowest possible reading“ – die langsamste Lektüre, die es gibt. Die Übertragung eines Textes in eine andere Sprache setze eine gründliche Untersuchung seines Aufbaus und seiner Wirkung voraus, ebenso wie eine Analyse der sprachlichen Mittel, die diese Wirkung erzielen. In diesem Sinne lässt sich die Praxis der Literaturübersetzung als rezeptiver Prozess verstehen, in dessen Verlauf die (offene) Bedeutung eines literarischen Werks wahrgenommen und verarbeitet wird. Dem US-amerikanischen Sprachwissenschaftler und Übersetzer Douglas Robinson zufolge ist das literarische Übersetzen aber zugleich auch eine Form des Schreibens. In seiner Monografie Who Translates? Translator Subjectivities Beyond Reason stellt er die These auf, der oder die Übersetzende wäre auch Autor·in, in dem Sinne, dass er oder sie ähnlich wie ein·e Autor·in schreiben und dabei auf eigene Sprach- und Welterfahrungen zurückgreifen würde. Dem literarischen Übersetzen kommt folglich eine Doppelrolle als zugleich rezeptive sowie produktive Arbeit zu: Die intensive Auseinandersetzung mit einem fremdsprachigen Text mündet in eine Neuerzählung des Originals. Aufgrund dieser Doppelrolle, so soll hier argumentiert werden, bietet die Praxis des literarischen Übersetzens großes Potential für die kulturelle Bildung, deren Hauptaufgabe laut Bundesministerium für Bildung und Forschung in der Befähigung von Kindern und Jugendlichen „zum schöpferischen Arbeiten und ebenso zur aktiven Rezeption von Kunst und Kultur“ liegt. Im Hinblick auf diese Formulierung steht dabei weniger das ‚Endprodukt‘ des literarischen Übersetzens, also der übersetzte Text selbst, im Fokus, sondern vielmehr der Prozess.

Die Vermittlung literarischen Übersetzens im Rahmen der kulturellen Bildung hat sich das Projekt echt absolut zum Ziel gesetzt. Dessen Initiatoren, das Literarische Colloquium Berlin und der Deutsche Übersetzerfonds, stellen fest: „Literarisches Übersetzen war in der kulturellen Bildung bisher unterrepräsentiert.“ Vermutlich hängt das mit den Vorurteilen zusammen, die sowohl dem Übersetzungsprozess als auch dem übersetzten Text anhaften. Übersetzungen werde oft die Originalität abgesprochen, wie Brian James Baer, Professor für Russisch und Übersetzungswissenschaften an der Kent State University in Ohio, feststellt. Zum einen tendierten Fremdsprachenabteilungen dazu, Übersetzungen als Ablenkung der Studierenden vom Original anzusehen. Zum anderen würden internationale Verlagshäuser Übersetzungen als exakte Entsprechungen des Originals vermarkten. Übersetzungen würden daher entweder außer Acht gelassen oder als notwendiges Übel betrachtet. Die Wahrnehmung und Wertschätzung der Arbeit von Übersetzer·innen werde wiederum stark beeinflusst von der vorherrschenden Vorstellung, das literarische Übersetzen wäre ein simples Zuordnungsspiel mit ausschließlich richtigen und falschen Lösungen – ein Umstand, der wahrscheinlich auf die Allgegenwart maschineller Übersetzung zurückzuführen ist. Baer befasst sich mit der Rolle der Übersetzung für den schulischen und universitären Literaturunterricht und plädiert für einen speziellen Lesemodus für übersetzte Texte, der diese nicht als Angleichung an die Normen und Erwartungen der Zielkultur, sondern als Erweiterung des Originals begreift.

Die auf außerschulische Maßnahmen fokussierte kulturelle Bildung vermag hier einen Schritt weiterzugehen. Anstatt sich der Interpretation des Originals anhand einer abgeschlossenen Übersetzung zu nähern, kann die Rezeption über die Produktion erfolgen. Kinder und Jugendliche erschließen den Text, indem sie ihn selbst übersetzen. Das eigentliche Potential des literarischen Übersetzens als Angebot kultureller Bildung geht jedoch auch über dieses erweiterte Textverständnis hinaus, da es Kindern und Jugendlichen die Chance zur Aneignung kultureller Ausdrucksformen bietet. Dies ist eines der Prinzipien der Kinder- und Jugendkulturarbeit, die von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) aufgelistet werden. Demnach spiele neben der Wahrnehmung von und Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur das „Selbermachen“ eine zentrale Rolle in der Praxis kultureller Bildung. Den Prozess des literarischen Übersetzens beschreibt die deutsche Übersetzerin Gabriele Leupold in ihrem Artikel „Ketten und Spielraum. Entscheidungen beim Übersetzen“ sehr anschaulich:

Ich beginne mit der Übersetzung, stoße auf Probleme, versuche sie zu formulieren, habe Ideen zu ihrer Lösung. Dann stelle ich fest, daß sie nichts oder nur partiell taugen, und suche und spinne weiter. Manches ist Blödsinn, manches interessant, aber, wie ich spüre, noch nicht das Gesuchte. Immer wieder wird die Frage präzisiert, die Materialsammlung gesichtet, ergänzt, reduziert – und irgendwann ist das Ergebnis da, das sich argumentativ begründen läßt.

Um diesen Prozess zu vermitteln und Kinder und Jugendliche bei der Aneignung der kulturellen Ausdrucksform des literarischen Übersetzens zu unterstützen, stellt das Projekt echt absolut ihnen professionelle Literaturübersetzer·innen an die Seite. Dass die so entstehenden übersetzten Texte nicht, wie im Falle der Übersetzer·innen, dem Zweck der Veröffentlichung, sondern eher dem Selbstzweck dienen, ist dabei keineswegs eine Schwäche des literarischen Übersetzens als Praxis der kulturellen Bildung. Vielmehr entspricht es dem Bildungsstandard, den Mark Schrödter, Professor für Sozialpädagogik des Kindes- und Jugendalters an der Universität Kassel, für die Kinder- und Jugendarbeit fordert. In Bezug auf die Kulturarbeit fragt er:

Was ist denn wertvoll beim Erschaffen und Aneignen von Kultur? Ist die Ausübung dieser kulturellen Tätigkeiten nicht an sich wertvoll, in dem Sinne, als dass sie unser Menschsein erst verwirklicht – egal, was es an Nutzen bringt? Das ist eine wichtige Bildungsperspektive und immer in Gefahr, weil unsere kapitalistische Gesellschaft dazu tendiert, alles dem Paradigma der Produktion zu unterwerfen.

Diesem Bildungsanspruch wird das literarische Übersetzen als Angebot der kulturellen Bildung durch seine Prozesshaftigkeit gerecht: Kinder und Jugendliche werden nicht etwa zu Übersetzer·innen ausgebildet, sondern für die Tätigkeit des Übersetzens sensibilisiert. Das Ausüben derselben eröffnet die Möglichkeit, sich sowohl mit der eigenen als auch einer fremden Lebenswelt auseinanderzusetzen und Verbindungspunkte zwischen den beiden zu finden. Beim literarischen Übersetzen kommt zwangsläufig die Frage auf, was das Gesagte im Originaltext mit der eigenen Welt, dem eigenen Leben, zu tun hat. Auf der Suche nach der passenden Formulierung, dem passenden Ausdruck, kann diese Frage beantwortet werden. Somit können Kunst und Kultur „als Bereicherung für das eigene Leben erfahrbar“ gemacht werden – eines von zwölf von der BKJ zusammengefassten Argumenten für die zentrale Rolle, die kulturelle Bildung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen spielt.

Nichtsdestotrotz stehen sowohl die kulturelle Bildung im Allgemeinen als auch das literarische Übersetzen als Praxis derselben vor der Herausforderung, auf die Bedürfnisse junger Menschen aus benachteiligten Milieus einzugehen. Diesbezüglich weist der EDUCULT-Vorstandsvorsitzende Michael Wimmer darauf hin, dass Kunst nicht nur Integrations-, sondern auch Segregationspotential habe: für Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Milieus ist „Kunst, jedenfalls im Selbstverständnis eines professionellen Kunstbetriebs … nicht Teil ihrer Lebenswelt und wird daher beispielsweise im schulischen Kontext zuerst einmal als Medium der Ausgrenzung und der Nichtzugehörigkeit erfahren.“ Daher bedürfe es sogenannter „Dritter Räume,“

die die bestehenden Machthierarchien nicht einfach negieren, sondern in einer Weise thematisieren, die sie zumindest im ästhetischen Spiel handhab- und damit veränderbar machen. Dabei besteht die Herausforderung darin, sich von unterschiedlichen Enden aus, gemeinsam erfahrbaren kulturellen Wertvorstellungen zumindest anzunähern. Künstlerische Verfahren, die ganzheitliche sinnliche Erfahrungen ermöglichen, können helfen, den Selbstwert junger Menschen in einer ansonsten als weithin diskriminierend erfahrenen Gemeinschaft zu erhöhen.

Als Angebot der kulturellen Bildung erfüllt das literarische Übersetzen diese Anforderungen per se, da es auf den Prozess des Übersetzens und nicht das künstlerische Ausgangs- oder Endprodukt abzielt. Anstelle eines Kunstwerks steht also eher das künstlerische Verfahren im Mittelpunkt. Gekoppelt mit einem diversen Angebot an Ausgangs- und Zielsprachen, Genres und Medien, wie sie im Projekt echt absolut realisiert sind, kann das literarische Übersetzen als Angebot der kulturellen Bildung Kindern und Jugendlichen den Umgang mit einem Werkzeug vermitteln, mit dem Kunsterfahrung zu Welterfahrung wird.

 

 

Literatur

Baer, Brian James. „Teaching literature in translation.“ The Routledge Handbook of Literary Translation. London & New York: Routledge 2019, S. 58-71.

Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (Hrsg.). „Gute Praxis machen. Woran man gute Angebote Kultureller Bildung erkennt.“ Webseite der             Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung. https://www.bkj.de/grundlagen/was-ist-kulturelle-bildung/prinzipien-der-kinder-und-jugendkulturarbeit/ [Zugriff: 30.03.2022].

—. „Argumente für Kulturelle Bildung. Warum Kulturelle Bildung wichtig ist.“ Webseite der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung.

https://www.bkj.de/grundlagen/was-ist-kulturelle-bildung/argumente-fuer-kulturelle-bildung/ [Zugriff: 10.04.2022].

echt absolut. Webseite des Projekts echt absolut. https://echtabsolut.de/info/ [Zugriff: 10.03.2022]

„Kulturelle Bildung.“ Webseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

https://www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/kulturelle-bildung/kulturelle-bildung_node.html [Zugriff: 10.03.2022].

Leupold, Gabriele. „Ketten und Spielraum. Entscheidungen beim Übersetzen.“ In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst. Göttingen: Wallstein 2012.             urn:nbn:de:101:1-201212201032.

Randol, Shaun. „Interview with Susan Bernofsky.“ Words without Borders. The Online Magazine for International Literature. 2013.

https://www.wordswithoutborders.org/dispatches/article/interview-with-susan-bernofsky [Zugriff: 10.03.2022].

Robinson, Douglas. Who Translates? Translator Subjectivities Beyond Reason. New York: State University of New York Press 2001.

Schrödter, Mark. „Perfektion bitte?!“ kubi. Magazin für Kulturelle Bildung. No. 19-2020, S. 27-29.

Wimmer, Michael. „Dritte Orte finden sich dort, wo soziale Ungleichheit aufeinander trifft.” kubi. Magazin für Kulturelle Bildung. No. 20-2021, S. 11-15.

 

 

Juliane Schallau ist 1992 in Frankfurt (Oder) geboren und promoviert im Fachbereich Amerikanische Literatur und Kultur an der Universität Potsdam über Zeitlichkeiten von Schuld im Werk William Faulkners. Von 2018 bis 2021 war sie im Literarischen Colloquium Berlin unter anderem für die Betreuung des Grenzgänger-Förderprogramms sowie des Online-Tonarchivs Dichterlesen.net zuständig und übersetzte englischsprachige Beiträge des Nachrichtenportals LCB diplomatique ins Deutsche. Seit 2022 arbeitet sie in der Kommunikationsabteilung der American Academy in Berlin.

 

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